MANIFEST DER AVANTGARDE
Text von Tankred Stachelhaus
Stolz über beide Ohren war man in Essen, nach langem Gezerre mit der preußischen Regierung eine Königliche Baugewerkschule errichten zu dürfen. Stadtplaner Robert Schmidt setzte das Gebäude als geistigen Mittelpunkt an den höchsten Punktes eines neuen Viertels, in welchem „bei jedem Schulgang den Schülern die moderne künstlerische Entwicklung des Hausbaus lebensgroß vor Augen geführt wird, um sie abzubringen von der überlieferten Überladung der Häuser mit unverstandenen Stilformen“. Ein ganzes Viertel als Lehrstück für gutes Bauen: Im Jahr 2010 feierte das Moltkeviertel seinen 100. Geburtstag.
Während in der Gartenstadt Margarethenhöhe die „Dichtung in Stein und Grün“ vorgetragen wurde, geriet das nahezu zeitgleich gebaute Moltkeviertel zum „Manifest der Avantgarde“. Die progressivsten Architekten des beginnenden 20. Jahrhunderts bauten im und rund um das Moltkeviertel, darunter Wilhelm Kreis, Otto Bartning, Erich Mendelsohn, Oskar Schwer sowie die neu nach Essen gezogenen Professoren Georg Metzendorf, Alfred Fischer und Edmund Körner. Als Reformarchitekten lehnten sie die damals weit verbreitete Protzarchitektur ab, mit denen sich Bauherren wie Architekten gegenseitig überbieten wollten. Im Moltkeviertel fand man zurück zum guten Geschmack, bekannte sich zur Funktion des Baus, zu klaren architektonischen Aussagen und überlegte, mit welchen Details man das Leben der Bewohner erleichtern kann. Konsequent wurden in dem Viertel der Mensch und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt gestellt. Man dachte nicht mehr nur an die repräsentative „gute Stube“, sondern ganzheitlich an alle Lebensbereiche in der kompletten Wohnung, im ganzen Haus. Viele Häuser haben einen so breiten Eingangsflur, dass ein Kinderwagen Platz findet.
Von „Kinderwagenreichweite“ sprach auch Stadtplaner Robert Schmidt, der fußläufig Spielflächen einplante, ein absolutes Novum dieser Zeit. Der spätere Gründungsdirektor des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirks (des heutigen Regionalverbandes Ruhrgebiet) plante das Viertel bis ins kleinste Detail. Es ging darum, angenehme Straßenzüge zu schaffen, in denen sich der Mensch nicht verliert, sondern Orientierung fand. Fast alle Straßen, die mehrheitlich nach berühmten Architekten wie Gottfried Semper, Josef Maria Olbrich und Karl Friedrich Schinkel benannt wurden, haben einen an der Topografie angelehnten Schwung, so dass der Blick in der Nähe haften bleibt. Die Straßen werden so zu beschützenden Plätzen. Ein Meisterstück ist Schmidt mit der recht langen Moltkestraße gelungen. Ausgehend von der Moltkebrücke verbreitert sich leicht die Straße im Zuge ihres Verlaufs, so dass sich die Perspektive verzerrt: Das Weite erscheint näher.
Eine Besonderheit sind auch die Grünflächen. Schon die Vorgärten an der Semperstraße und am nördlichen Moltkeplatz waren in ihrer Bepflanzung vorgegeben. Sie blieben im Besitz der Stadt, die sich auch um die Pflege kümmern wollte. Der Camillo-Sitte Platz im Osten war der Schaugarten mit einer Pflanzenpracht, bei denen den Spaziergängern, die der als Schaustraße geplanten Ruhrallee nach oben hin flanierten, die Augen übergingen. Auf dem Moltkeplatz wiederum spielte die sportliche Ertüchtigung eine große Rolle; es muss für die damalige Zeit eine Provokation gewesen sein, dass hier auf Tennis- und Turnplätzen Leuten vor den großbürgerlichen Villen ins Schwitzen kamen. Zuletzt kam die dreigliedrige Wiebeanlage hinzu, der allererste Binnenpark Deutschlands. Die Grünflächen gehören zum Netz von Grünzonen, mit denen die Innenstadt gezielt durchlüftet wurde.
Robert Schmidt konnte die Bauherren davon überzeugen, die Qualität und Aktualität der Architektur über drei Bauphasen aufrecht zu erhalten. Metzendorf, Körner und weitere Reformarchitekten prägten mit ihren markanten Gebäuden die erste Bauphase bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Die Bauten sind gekennzeichnet durch eine abgewandelte Interpretation des höchst geometrischen Wiener Jugendstils. Einflüsse des Bauhauses hinterlassen in den zwanziger Jahren ihre Spuren. Ziegelexpressionistische Bauten kamen am Camillo-Sitte-Platz oder in der Olbrichstraße hinzu. Mit den dreissiger Jahren hielten die Bauten der „Neuen Sachlichkeit“ Einzug ins Moltkeviertel. Zierrat verschwand nun vollends, die Kombination von Raumkörpern stand im Vordergrund.
Wer heute durch das Moltkeviertel geht, dem muss die Besonderheit des Viertels nicht unbedingt ins Auge springen. Das mag daran liegen, dass viele hier entwickelte architektonische und stadtplanerische Lösungen in vielen Städten aufgegriffen wurden. Das für anspruchsvolle Führungskräfte aus Industrie und Verwaltung geplante Viertel gehört immer noch zu den bevorzugten und schönsten Wohnquartieren der Stadt.
Bekannt ist das Moltkeviertel vor allem bei der Stadtverwaltung als „traditionell selbstbewusstes Viertel“. Die Bewohner selbst verhinderten so manchen Abriss von bedeutenden Häusern, ein Engagement, das in der Übernahme der Patenschaft über die Kunstwerke durch den Verein „Kunst am Moltkeplatz“ fortgeführt wurde und in der Gründung des „Bürgervereins Moltkeviertel“ gipfelte.
Siehe auch Wikipedia und hier (Forum Baukunst NRW der Architektenkammer NRW)
NAMEN DER STRASSEN UND PLÄTZ
Die Benennung der Straßen im Viertel nach großen Baumeistern zeigt die Verehrung der Planer für die Architektur, während die Namensgebung nach dem preußischen Generalfeldmarschall von Moltke für die größte Straße und den größten Platz des Viertels wohl eher dem Zeitgeist zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg geschuldet war. Für mehr Informationen klicken Sie auf die nachfolgenden Namen.
- Helmuth Karl Bernhard von Moltke
- Karl Friedrich Schinkel
- Gottfried Semper
- Camillo Sitte
- Joseph Maria Olbrich
- Alfred Messel (die Messelstraße war in der Zeit 10.06.1940 – 15.05.1945 als Ludwig Troost-Straße nach Hitlers Lieblingsarchitekt benannt)
- Andreas Schlüter
- Karl Friedrich Wilhelm Henrici
- Paul Wallot
- Carl Seidl
- Ernst von Bandel
- Friedrich Küch ?
- Karl Robert Weißbach
- Ludwig Franzius ?
- Friedrich Wiebe (1843 – 1922; Essener Beigeordneter ab 1899, Leiter des Tiefbauamtes)
- Ernst Schnutenhaus (1842 – 1912; früherer Eigentümer des Bauernhofes, auf dessen Fläche ab 1910 unter anderem die genossenschaftliche Siedlung Eigenheim im wesentlichen mit der Schnutenhaus-, Messel- und Weißbachstraße entstand)
- Robert Schmidt (1869 – 1934; Stadtplaner; ab 1906 Essener Beigeordneter; 1920 – 1932 erster Verbandsdirektor des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk, dem Vorgänger desRegionalverbandes Ruhr).
DOSSIER: Moltkeviertel
Ich habe eine Broschüre über das Moltkeviertel in Essen geschrieben (siehe obigen Link PUBLIKATIONEN). Bei der Vorstellung schwang ich eine Rede, die es hier noch einmal zum Nachlesen gibt. Es werden in diesem Dossier nach und nach noch weitere aktuelle wie historische Bilder sowie andere Artikel über das Moltkekviertel hinzukommen.
MANIFEST DER AVANTGARDE: DAS ESSENER MOLTKEVIERTEL
Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrter Herr Hansen, sehr geehrte Damen und Herren,
Früher stand über der Eingangspforte dieses Gebäudes nicht „Robert Schmidt Berufskolleg“, sondern „Königliche Baugewerkschule“. Die Festschrift zur Einweihung dieser Schule war mit einem Spruch von dem Architekten Professor Edmund Körner betitelt, der dieses Gebäude entworfen hat. Da stand: „Der Baukunst zur Ehr’, der Jugend zur Lehr’“, ein Satz, der ein Leitbild für das ganze Moltkeviertel ist.
Die am 16. November 1911 eröffnete Baugewerkschule war das geistige Zentrum des innenstadtnahen Neubaugebietes „Brünglinghaushof“, wie die vorwiegend landwirtschaftlich genutzte Fläche vormals hieß. Sie wurde an der höchsten Stelle des ersten Bauabschnitts platziert.
Für die Schüler dieser Baugewerkschule, die übrigens zeitgleich mit der Maschinenbauschule unten am Viehofer Platz eröffnet wurde, sollte das Moltkeviertel ein Lehrstück sein. Der Bebauungsplan von 1908 gab die Zielsetzung vor: Ich zitiere jetzt aus einem zeitgenössischen Artikel aus der „Essener Zeitung”: „Die Baugewerkschule soll an der angegebenen Stelle inmitten eines nach ästhetischen Gesichtspunkten durchgeführten Stadtteils errichtet werden. Sie steht an geeigneter Stelle, weil gerade hier bei jedem Schulgang wiederholt den Schülern die moderne künstlerische Entwicklung des Hausbaus lebensgroß vor Augen geführt wird, um sie zum Segen für ihren späteren Wirkungskreis abzubringen von der überlieferten Überladung der Häuser mit unverstandenen Stilformen.”
Im und um das Moltkeviertel herum bauten die besten und progressivsten Architekten Deutschlands, darunter allein zehn Architektur-Professoren. Doch es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass diese Herren Professoren auch an der Baugewerkschule lehrten. Lediglich Georg Metzendorf war im Kuratorium der Schule vertreten, im Kuratorium wohlgemerkt, nicht im Kollegium. Dort waren Königliche Oberlehrer, die so schöne Namen trugen wie Wilhelm Gutekunst, Alfred Hochwohlgebohren oder Friedrich Machmar.
Die Baugewerkschule war keine Universität, sondern irgendwo zwischen Berufsschule und Fachhochschule angesiedelt. Maurer und Zimmerleute konnten sich hier für die mittlere bautechnische Laufbahn in der Verwaltung oder in der Privatwirtschaft empfehlen. Als Abschlussprüfung bekamen sie zum Beispiel die Aufgabe vorgesetzt, ein „Freistehendes Wohnhaus für einen Oberförster” zu entwerfen. Der Schwerpunkt lag aber ganz klar auf die technischen Lösungen und nicht auf Architektur.
Das Moltkeviertel entstand nicht aus dem Nichts. Natürlich hat es auch eine Vorgeschichte, die einerseits dem Denken zu Anfang des 20. Jahrhunderts entsprach oder sich daraus entwickelte, andererseits dagegen opportunierte. Und es ist eingebettet in eine Stadtplanung in Essen, die von einem Geist erfüllt war, der einen heute neidisch werden lässt, dass all dies, in ganz Essen wohlgemerkt – möglich war.
Grenzenlose Welt
Es herrschte zu der damaligen Zeit eine große Technikgläubigkeit, wie man sie sich heute kaum noch vorstellen mag. Man hatte immer festeren Stahl, man hatte Beton, man entwickelte Autos, erklomm mit Flugzeugen die Lüfte, überwand flott mit schnellen Eisenbahnen oder Dampfschiffen große Distanzen, schaute sich den gewaltigen Pariser Eiffelturm an – all das sei nur kurz umrissen. Die Welt war grenzenlos in alle Richtungen, die Wissenschaft, so dachte man, könnte alles berechnend lösen. Essens Bürgermeister Holle sagte zur Eröffnung der Maschinenbauschule und Baugewerkschule: „Unser Zeitalter stellt ein Triumphzug der Technik dar. Die technischen Wissenschaften haben durch die Entdeckung und Beherrschung der Naturgesetze staunenswerte Erfolge erzielt, und jeder Tag bringt neue Fortschritte. Was die Wissenschaft ergründet, muss in Forum und Materie umgesetzt werden. […].” Der Sohn unseres Industriebezirkes soll fortan auf dem historischen Boden, wo Alfred Krupp den Weltruhm deutscher Industrie begründete, das beste Rüstzeug für sein weiteres Fortkommen durch die Maschinenbauschule finden.”
Geborgenheit statt Machtdemonstration
Diese Technikgläubigkeit sollte nur fünf Monate nach der zitierten Rede mit dem Untergang der hochtechnisierten, als unsinkbar geltenden Titanic seinen ersten Dämpfer erhalten. Aber damals glaubte man, selbst soziale Probleme seien nur ein technisches Problem. Städte wurden nach pragmatischen, hygienischen Maßstäben geplant, mit schnurgeraden Straßen und gesichtslosen Wohnhäusern. Erst Camillo Sitte, nach ihm ist bezeichnenderweise oben an der Moltkestraße der Platz benannt, erinnerte daran, dass der Mensch auch andere Bedürfnisse hat als Essen, Trinken, Verdauung und schnell zur Arbeit und zurück kommen. Ihm ging es um künstlerische Stadtplanung, die den Menschen als ganzheitliches Wesen in den Mittelpunkt stellte. Sein 1889 erschienenes Buch „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen„ hatte eine große Wirkung auf die reformorientierte Architekten und Stadtplaner. Sitte regte unter anderem an, verkürzt gesagt, sich wieder an gewachsenen mittelalterlichen Städten mit ihrer unregelmäßigen Platzstruktur zu orientieren, was das Empfinden der Menschen unbewusst besonders anspreche. Dort würden sie Geborgenheit finden, schließlich seien die mittelalterlichen Städte ja mit dem Menschen in einem viel direkterem Austausch gewachsen. Die Augen sollten geführt werden, und zwar nicht in die endlose Ferne, wie es in vielen machtdemonstrierenden Repräsentationsstraßen der damaligen Zeit der Fall war, die einen als ganz klein, als ein Niemand, erniedrigten. Nein, die Augen sollten Halt finden.
Sie werden ahnen, dass dies natürlich im Moltkeviertel berücksichtigt wurde. Stadtplaner Robert Schmidt plante die Straßenzüge mit einem an der Topografie des Geländes angelehnten Schwung, so dass der Blick in der Nähe haften bleibt. Der Straßenraum wird so zu einem beschützenden Platz.
Protzige Angeberei
Bürgermeister Holle hatte bei der Eröffnungsrede, aus der ich bereits zitiert habe, auch gesagt: „Von nicht geringerer Bedeutung ist für uns die Baugewerkschule, der es obliegt, für die unvergleichlichen Bauaufgaben unseres Bezirks Techniker heranzubilden. Mit Freuden sehen wir im letzten Jahrzehnt die Morgenröte einer herrlichen Baukunst wieder aufsteigen, wo eine wilde Formlosigkeit gerade den Industriebezirk vollends zu verunstalten drohte. Es bedarf größter Eile diese Veredelung des Baugeschmacks zum Gemeingut zu machen und zu verbreiten, um unsere bauliche Entwicklung jetzt in besseren Bahnen zu halten. Die Beispiele in guten, besten und schlechtesten Leistungen mögen es der Baugewerkschule erleichtern, inmitten lebhafter Bautätigkeit edles empfinden zu pflegen und Unschönem zu wehren.”
Ich muss gestehen, dass ich fast der Versuchung erlegen wäre, mir hier ins Manuskript zu schreiben, dass Holles Forderungen nach Beispielen in schlechtesten Leistungen erst in den vergangenen 20 Jahren erfüllt werden konnten. Ich hab’s aber gelassen, weil’s nicht stimmt. Schon damals gab’s auch vereinzelnd schlechte Bauten im Moltkeviertel. Und es sind in den vergangenen Jahren auch wunderbare Neubauten entstanden.
Aber was ist das für eine „wilde Formlosigkeit”, von der die Rede ist? Was hat es mit der „überlieferten Überladung von Häusern mit unverstandenen Stilformen„ auf sich, die hier immer wieder von den Zeitgenossen angeprangert wird?
Nun, wie erwähnt, war die Welt grenzenlos. Man konnte in die entferntesten Kontinente reisen. Doch das reichte noch nicht. Auch eine Zeitreise durch die Kunstgeschichte war drin. Und so vereinte das in der Gründerzeit rasant angewachsene Bürgertum auf den Fassaden ihrer Häuser alle Souvenirs ihrer Kopfreisen. Es war die Zeit des Historismus, der Neugotik, der Neo-Renaissance, des Neo-Barock, des Neo-Klassizismus usw. – gerne auch alles auf einmal. Manche setzten mit ihrem Stilwirrwarr Maßstäbe. Die Villa Hügel von Krupp, das war natürlich ein Vorbild, dem auch andere, weniger wohlhabende Bürger nacheiferten. Das Bürgerlich-Angemessene wich einer protzigen Angeberei. Es wurde sehr viel Wert auf die Repräsentation gelegt, mit Fassade und guter Stube. Vorne hui, hinten pfui. Die Rückseite der Häuser wurde nicht gezeigt, genauso wenig wie die Privatgemächer. Bei Monumentalbauten, etwa Museen, war ebenfalls die spätere Nutzung zweitrangig – im Vordergrund stand die Überhöhung der Architektur, egal ob in solchen Räumen Exponate ausgestellt werden oder gar wirken können.
Bekenntnis zum maßvollen Bauen
Den Reformarchitekten grauste diese Art Häuser zu bauen. Sie bekannten sich zur Funktion des Gebäudes, zu klaren architektonischen Aussagen, zu Details, die das Leben erleichtern – und sie fanden wieder zu einem maßvollen Bauen zurück, in der Zierrat bewusst gesetzt wurde, etwa um das Auge zu lenken. Die Putten an der Koppers-Villa gegenüber sind ein gutes Beispiel dafür. Der Mensch guckt sich halt gerne solche kleinen Engelchen an. Dann werden solche Motive eben verwendet, was soll’s, wenn es zur angenehmen Wirkung beiträgt. Die Reformarchitekten wollten nicht mit Traditionen brechen, sondern eine behutsame Reform einleiten. Anstatt sklavisch einem Stil zu folgen oder verschiedene Stile anzuhäufen, sahen sie die Stile als Fundus zur Lösung architektonischer Probleme an. Die beste Lösung für einen Bau galt es zu finden. Es ging um eine Architektur mit Maß.
Meine Damen und Herren,
ich mache an dieser Stelle mal einen Schnitt, um einzelne Aspekte herauszugreifen.
Ich habe mich in dem Heft auf die Häuser konzentriert, die es noch gibt. Hintenüber gefallen sind aus konzeptionellen Gründen wunderbare Gebäude, die leider zerstört sind. Der Schwerpunkt des Heftes sollte auf dem heutigen Moltkeviertel liegen. Aber im Rahmen dieser Einführung habe ich ja Gelegenheit, kurz an sie zu erinnern.
Villen Köhn und Stern
An die Villa von Willy Köhn zum Beispiel, die neben dem Atelierhaus von Körner am Ende der Moltkestraße stand, ebenfalls ein ziegelexpressionistischer Bau, und ebenfalls von Körner gezeichnet. Willy Köhn war Geschäftsführer, würde man heute sagen, von der Eisenhandlung Max Stern – ein schwaches Indiz dafür, dass es sich bei einem weiterem Bau, der im zweiten Weltkrieg verloren gegangenen „Stern Villa„ in der Robert Schmidt-Straße 2, die ebenfalls von Körner in den 1920er Jahren gebaut wurde, um die Villa von Max Stern selbst handelt. Ein Max Stern stand jedoch nicht in der Wallotstraße bzw. Robert-Schmidt-Straße, wie dieser Abschnitt ja einmal hieß, im Adressbuch der Stadt unter dieser Adresse. Der Enkel von Robert Schmidt, Herr Prof. Imhoff, erwähnte nur, dass der Besitzer „Jude Stern“ genannt wurde. Das Haus hatte den Grundriss eines Sterns, und war, wie man heute sagt, ein echter Hingucker: expressionistisch, mutig, stark.
Villa Pallerberg
Aber es gab auch Häuser, die man als recht normale groß- und gutbürgerliche Villen bezeichnen durfte. Am Moltkeplatz 25 befand sich etwa dieses Haus. Die Familie Pallerberg wohnte dort. Das Haus musste vermutlich weichen, als die große Wohnanlage gebaut wurde.
Wohnhaus von Robert Schmidt
Interessant ist auch das Wohnhaus von Robert Schmidt selbst, das zu einem der ersten Häuser an dem Teilbereich der Robert-Schmidt-Straße gehörte. Das Haus ist im Krieg zerstört worden. Die private Fotoserie ist vermutlich an einem Tag in den 1920er-Jahren entstanden, wenn man den fortgeschrittenen Wuchs der Pflanzen als Maßstab nimmt. Wer der Architekt des Hauses ist, ist bislang unbekannt. Im Wohnzimmer hing ein Porträt von Ernst von Bandel, dem Großvater von Schmidts Frau Lilli. Er war Erbauer des Hermanndenkmals. Ausflüge zu dem Denkmal standen in der Familie Schmidt immer ganz oben bei der Freizeitgestaltung. –
Wohngebäude von Paul Porrten
Ein anderes Haus, was ich gerne vorstellen möchte, wurde vermutlich am 5.3.1943 durch Bomben zerstört. Architekt war Paul Portten. Sein bekanntestes Werk in Essen ist der Grugaturm. Dieses Haus an der Schinkelstraße 32 stammt von 1926.
Ich finde es traumhaft, vor allem das Zusammenspiel der ganz einfachen Bauformen Dreieck, Quadrat und Halbrund — und wie Architektur und Innenarchitektur ganzheitlich zusammenspielen. Heute gibt es noch einen Bau von Portten an der Semperstraße 31, gebaut 1925, und an der Schinkelstraße 22. –>ZUR FOTOSTRECKE WOHNHAUS SCHINKELSTRASSE 32
Private Frauenklinik
Der Krieg hat im Moltkeviertel weitere Zerstörungen hinterlassen. Die private Frauenklinik an der Ecke Ruhrallee, Moltkeplatz, wo heute heute das Matthias-Ludwig-Haus steht, war fast völlig zerstört. Die Kellerräume waren noch begehbar. Und merkwürdigerweise funktionierte dort noch der Wasseranschluss. Das ganze Viertel hat von dort noch Wasser geholt. Übrigens: Wer das Hochhaus heute für hässlich hält: Die Frauenklinik war auch kein großer architektonischer Wurf, die Dachkonstruktion war missraten und gerade am nördlichen Entre zum Moltkeviertel alles andere als ein Lehrstück für gutes Bauen.
Manches wurde aber auch wieder aufgebaut. Die Alt-Lutherische Kirche am Moltkeplatz, die heutige SELK, war nahezu vollständig eine Ruine; davon stand nur noch der Turm. Sie war nach dem Zweiten Weltkrieg die erste Wiederaufgebaute Kirche, wobei das Gemeindehaus in veränderter Form wieder errichtet wurde. Über die SELK und ihre Geschichte ist gerade gestern ein Buch erschienen. Darin wird auch das Moltkeviertel erläutert. Der Autor dieses Kapitals ist Dr. Ernst Kurz, der auch die Manuskripterstellungen meines Heftes begleitet hat.
Meine Damen und Herren, Ich möchte den Vortrag nicht beenden, um auch eine anderes wichtiges Merkmal des Moltkeviertels in den Mittelpunkt zu rücken: Die Kunst.
Am 22.6.2006 verhinderte mit einer Menschenkette eine Gruppe Anwohner den Abtransport des Hannover Tors in die Gruga. Woanders hätten Anwohner vielleicht nicht verhindert, dass das Kunstwerk wegtransportiert wird. Sie hätten womöglich sogar noch mitangepackt. Ich erinnere mich da um die Querelen rund um die Spitzer-Plastik in der Innenstadt. Aber hier, da besetzen Anwohner ein Kunstwerk, um den Abtransport zu verhindern. Der Kranwagen zog unterrichteter Dinge wieder ab. Mit einer Beharrlichkeit, die ihresgleichen sucht, freundlich im Ton aber bestimmt in der Sache, nahm der Verein Kunst am Moltkeplatz den Kampf um den Erhalt des Skulpturenparks auf. Am Ende schaffte es der Verein, dass alle – die Eigentümer, die Künstler, die Stadtverwaltung und der Verein eine für alle akzeptable Lösung fanden und den Erhalt des Parks zu sichern. Der Verein Kunst am Moltkeplatz hat die Patenschaft über die Kunstwerke übernommen. Und mit derselben freundlichen Beharrlichkeit kümmert sich der Verein seitdem um die Skulpturen – ein Job, den andere womöglich schon längst hingeworfen hätten. Den meisten Ärger bekommen als direkte Anwohner des Skulpturen-Parks Dr. Volker Wagenitz und seine Frau Lisa Lambrecht-Wagenitz ab. An die 40 Mal haben sie allein die rote Wand des Kunstwerks „Denkmal„ von Gloria Friedmann neu wegen Schmierereien und Graffiti streichen müssen. […] Ihr Antrieb dürfte die Begeisterung für die Kunst sein und die Erfahrung, dass sie nicht allein sind. Mit ihrem Verein Kunst am Moltkeplatz haben sie wieder etwas zur weiteren Mustergültigkeit des Moltkeviertels beigetragen. Ihre Patenschaft gilt in Essen als Blaupause für bürgerschaftliches Engagement.
Bei der Stadtverwaltung gilt das Moltkeviertel schon lange – das ist jetzt ein Zitat – als „traditionell selbstbewusstes Viertel“.
Den Grundstein für diese Auszeichnung legte die Aktionsgemeinschaft zur Erhaltung des Moltkeviertels, der es gelang, eine Reihe von Bauten vor dem Abriss zu retten und deren Engagement in der Erhaltungssatzung mündete. Verhindert wurde zum Beispiel, dass gleich zwei Häuser für die Filiale der Deutschen Bundesbank abgerissen wurden. „Nur“ eins musste dran glauben. Man kann das beklagen und den architektonischen Wert des Neubaus diskutieren, man sollte aber auch bedenken, dass das Moltkeviertel im Gegensatz zu den Gartenstädten wie der Margarethenhöhe keine reine Wohnsiedlung war und ist, sondern Wohnen und Arbeiten miteinander verbindet. 4.000 Einwohner standen zuletzt 3.000 Arbeitsplätze im und in direkter Nähe zum Moltkeplatz gegenüber. Wie die Situation nach dem Wegzug von E.On Ruhrgas aussieht, weiß ich nicht. Wichtig ist: Schon bei der Planung hat man erkannt, dass Wohnen und Arbeiten kein Widerspruch sind.
Das ist hier kein Viertel, wo man eine museale Käseglocke drüber setzen kann, das würde dem Charakter des Viertels völlig widersprechen. Es ist ein lebendiges, der Modernität verpflichtetes Viertel.
Meine Damen und Herren,
Mit dem Moltkeviertel wurde weltweit einzigartige RaumKunst geschaffen – wie auch der Untertitel des heute vorgestellten Buchs aus der Reihe „Rheinische Kunststätten“ heißt. Stadtplanung und Architektur verbinden sich hier auf einmalige Weise zum modernen, mustergültigen Städtebau. All das lässt sich bis heute noch gut ablesen. Über drei Bauphasen hinweg ist es Stadtplaner Robert Schmidt gelungen, die Qualität und Aktualität der Architektur hochzuhalten, von der Reformarchitektur bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, über die expressionistischen und am Bauhaus orientierten Bauten in der Zeit der Weimarer Republik bis hin zu den der Neuen Sachlichkeit zuzuordnenden bauten der 30er-Jahre. Die Konsequenz, mit der dieses Viertel gebaut wurde, ist weltweit einmalig. Ich hoffe, dass das Heft nicht nur für die Schönheit dieses Viertels begeistert, sondern auch mögliche Bauherren daran erinnert, welche Verpflichtung sich daraus ergibt, in diesem Viertel zu bauen! Erwartet werden weitere lehrreiche Beispiele für Spitzenarchitektur mit Maß.
Und zuletzt hoffe ich, dass das dieses Manifest der Avantgarde namens Moltkeviertel immer wieder zu Rate gezogen wird bei anderen Stadtplanungsprojekten. Viele, auch in Essen, stehen weit hinter den im Moltkeviertel seit 100 Jahren entwickelten städtebaulichen Lösungen zurück.
Ich werde es bei diesen kurzen Ausführungen zur Einführung belassen. Unter jeden Stein, den man im Moltkeviertel anhebt, verbirgt sich eine neue Geschichte, ein neues Thema für einen Vortrag oder eine Doktorarbeit – und nicht nur baugeschichtlich.
Erlauben Sie mir noch zum Schluss etwas zum Aufbau des Buches zu erläutern. Architektur und Kunst bilden die Klammer. Das Heft ist in drei Teile strukturiert. Im ersten Teil wird die Baugeschichte des Moltkeviertels erläutert. Im zweiten Teil gibt es einen geführten Rundgang entlang von 13 wichtigen Punkten durch das Viertel. Dieser führt, wie die Karte vorne zeigt, durch das Kerngebiet des Moltkeviertels. nahe Ziele wie die Auferstehungskirche, die nicht unmittelbar zum Moltkeviertel gehören, ihm aber verbunden sind, sind als zusätzliche Exkursionsmöglichkeiten erläutert. Der Rundweg führt von der Moltkebrücke, dem vermutlich ersten Bauwerk des Viertels, fertig gestellt 1910 – weswegen wir 100 Jahre Moltkeviertel feiern, über Ziele wie Siedlung Eigenheim und Camillo-Sitte-Platz bis zum Moltkeplatz. Der Dritte Teil erläutert die Aktivitäten des Vereins Kunst am Moltkeplatz und die einzelnen Kunstwerke auf der Wiese.
Ich hoffe, Sie haben ebenso viel Spaß bei der Lektüre wie ich beim Schreiben.